Reifegradmodelle und ihre Risiken

Reifegrad­modelle können sehr nützlich sein, wenn sie im richtigen Kon­text ver­wendet werden. Werden sie jedoch zu wört­lich ge­nommen oder weiter ge­trieben als ur­sprünglich gedacht, dann können sie geradezu riskant sein.

Dies gilt vor allem im Zusammen­hang mit Globalisierung und Lo­kalisierung, zwei Prozessen, die im Zentrum vieler dis­ruptiver, revolutionärer Trends stehen. Zu diesen Trends ge­hören der Auf­stieg von Hyper-Personalisierung, künst­licher Intelligenz und benutzer­generierten In­halten sowie immer niedrigerer Barrieren zum Einsatz von Technologie.

Die Erleuchtung kam mir in meinem Beruf während eines Vertriebs­gesprächs, bei dem wir hofften, einen Neu­kunden zu gewinnen. Bei den Käufern handelte es sich um Marketing­fachleute und nicht um Mit­arbeiter des Lo­kalisierungs-Procurement. Folglich be­schrieben sie die von ihnen gewünschte Lösung in Marketing- statt in Lokalisierungs­begriffen. Sie sprachen überhaupt nicht über Projekte, und Details wie der Nutzen von Translation Memorys (TMs), die Kosten nach ge­wichteter Wort­zahl usw. waren für sie an­scheinend völlig un­wichtig. Unser An­gebot war jedoch genau auf die Optimierung dieser Aspekte aus­gerichtet. Den Auftrag erhielten wir nicht.

Bei der Analyse, warum wir den Zu­schlag nicht er­halten hatten, lautete einer der an­genommenen Gründe, dass der Kunde „nicht reif für die Lo­kalisierung“ ge­wesen sei, und als Beleg wurde das Localization Maturity Model (Reifegradmodell für die Lokalisierung) von CSA angeführt. Manche meinten, dass es vielleicht sogar besser sei, diesen Kunden nicht ge­wonnen zu haben. Da läuteten bei mir die Alarmglocken.

In unserer sich rasant ver­ändernden Welt sollten nicht nur Be­hauptungen über Reife (oder Unreife) in­frage ge­stellt werden, sondern das gesamte Konzept muss überdacht werden.

Um Miss­verständnissen vor­zubeugen: Ich sage nicht, dass man Reife­grad­modelle über­haupt nicht ver­wenden sollte. Ich ver­wende sie selbst für ver­schiedene Zwecke, zum Beispiel wenn ich andere Branchen oder Ver­fahrens­weisen besser ver­stehen möchte. In meinem Beitrag über die „Customer Experience Revolution“ habe ich auf das „Customer Centricity Maturity Model“ (Reife­grad­modell für Kunden­orientierung) verwiesen, da ich es hin­sichtlich der Frage „Wo steht die Lokalisierungs­branche im Kontext der CX-Philosophie?“ äußerst nützlich fand

Und als ich in meiner Rolle als Technology Program Manager bei Moravia an unserer Technologie-Roadmap ar­beitete, habe ich sowohl das „Localization Maturity Model“ von CSA als auch das Modell „Evolution of the Translation Industry“ (Evolution der Übersetzungs­branche) von TAUS zurate gezogen. Zu wissen, wo die Branche ihre Stärken, Schwächen und ihre Ambitionen sieht, ist eine wichtige In­formations­quelle, die hilft, die zu­künftige Marktnachfrage einzuschätzen.

Wo also liegt das Problem?

Bevor wir näher darauf eingehen, schauen wir uns kurz an, woraus Reife­grad­modelle ent­standen sind und wie sie sich bis heute ver­ändert haben. Es ist wie mit Super­helden: Kennt man ihre Geschichte, er­kennt man auch ihre Stärken … und ihre Schwächen.

Die Reife eines Kükens

In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren wurde das Capability Maturity Model (kurz CMM) entwickelt, damit das US-Verteidigungs­ministerium die Reife von Software­entwicklungs­projekten seiner Lieferanten be­urteilen konnte. Im Grunde handelte es sich um eine Supply-Chain-Management­technik zur Minimierung des Risikos, dass ein Projekt daran scheitert, dass der An­bieter über keinen klar definierten Qualitäts­sicherungs­prozess verfügt.

Es gab einen recht simplen Rahmen vor: Es werden fünf Reifegrad-Stufen definiert, von denen Stufe 1 den ge­ringsten und die Stufe 5 den höchsten Reifegrad wider­spiegelt. Jeder Stufe sind spezielle Reife­eigenschaften zu­geordnet (ähnlich wie die ver­schiedenen Phasen der Ent­wicklung eines Fötus von der Befruchtung bis zur Geburt).

Eigenschaften der Stufen im ReifegradmodellAbbildung 1 – der Integrationsprozess für das Capability Maturity Model, die Grundlage für viele andere

Das US-Verteidigungs­ministerium konnte jeden An­bieter mit einem Reife­grad für das Stadium be­werten, das seinem aktuellen Prozess am ehesten ent­sprach, und diesen Grad dann in Ent­scheidungen zu Be­schaffungs­maßnahmen ein­fließen lassen, die Supply-Chain ver­bessern und vieles mehr.

Heute ist das Modell in der Geschäfts­welt als allgemein­gültige Methode für die Evaluation von Organisations­strukturen fest etabliert. Man kann damit sich selbst, die eigene Branche, seine Kunden oder seine Mit­bewerber an idealen und bisweilen futuristischen Best Practices messen.

(Neben den bereits genannten Modellen gibt es noch das Enterprise Content Management Maturity Model, das Machine Translation Maturity Model, das DITA Maturity Model, das Digital Transformation Maturity Model und viele mehr.)

Es hat sich zu einer Art Pop-Kultur der Geschäfts­welt ent­wickelt. Heute werden Philosophien über be­triebliche Prozesse von Reife­grad­modellen begleitet. Das ist an sich nichts Schlechtes, doch dieses Phänomen bringt eine Reihe von Fall­stricken mit sich, auf die ich nun ein­gehen möchte.

Zu viel Vertrauen in Erzählungen

Es ist wichtig, zu verstehen, dass diese Modelle in der Regel ein Kon­strukt aus Er­fahrungen, Meinungen und Vor­stellungen sind, aber nicht das Er­gebnis angewandter wissen­schaftlicher Methoden.

Sie sind eher mit Management-Fiction verwandt, wie „Projekt Phoenix“ oder „Das Ziel“ von Eliyahu Goldratt, als mit realen wissenschaftlichen Modellen. Sie sind zum Teil ab­schreckendes Beispiel und zum Teil Erfolgs­story, strukturell auf­gebaut wie eine Heldenreise nach Joseph Campbell, in dem der Protagonist einen steinigen Weg meistert und von einem Niemand zum Helden wird – from zero to hero.

Die Modelle setzen auf Emotionen und das ist ein Teil des Problems. Wie über­zeugend sie sind, sagt nichts darüber aus, wie gut sie die Zukunft prog­nostizieren können oder wie sehr wir den darin ent­haltenen Erfolgs­versprechen vertrauen können.

Rück­blickend wird klar, dass diese Art von Vorher­sagen nie oder zumindest fast nie zutrifft.

Dem Irrtum des „Traditionsarguments“ zum Opfer fallen

In meiner mehr als 20-jährigen Lauf­bahn in der Globalisierungs-/Lokalisierungs­branche hatte ich die Ge­legenheit, den Ur­sprung von Verfahrens­weisen mit­zuerleben, die heute als „Best Practices“ gelten – einfach, weil sie zwanzig Jahre später noch immer an­gewendet werden. Es ist ein faszinierendes Phänomen, bei dem einfache Techniken durch mehrere positive Feedback­schleifen be­stärkt werden, darunter Beschaffungs­prozesse, bei denen die An­bieter gegen das antreten, was eigent­lich alle für die ideale Lösung halten.

Nur etwas, das seit langer Zeit breite An­wendung findet, wird zu einer Tradition. Etwas als Best Practice zu bezeichnen, impliziert, dass es mehrere Alternativen gab, von denen eine nach­weislich über­legen war. Doch viele Verfahrens­weisen sind seit Jahren konkurrenz­los geblieben.

Traditionen sind schon auf­grund ihrer Natur anfällig für Disruptionen. Was heute als aus­gereift und be­währt gilt, kann morgen schon ver­altet sein.

Mithilfe der Modelle bestehende Meinungen begründen

Der Mensch möchte die Welt um ihn herum verstehen, Probleme oder Un­behagen aber möglichst vermeiden. Wenn wir auf In­formationen stoßen, die unserem Welt­bild wider­sprechen, dann löst das eine kognitive Dissonanz aus – ein als un­angenehm empfundener Gefühls­zustand, der sich be­seitigen lässt, indem wir ent­weder unsere Welt­anschauung ändern oder die im Wider­spruch dazu stehenden In­formationen ignorieren.

Letztere Tendenz manifestiert sich in dem immer häufiger an­zutreffenden Phänomen der „Filter- oder Informationsblase“, bei dem sich Menschen nur mit In­formationen umgeben, die mit ihren bis­herigen An­sichten überein­stimmen – und diese dadurch bestätigen. Diese Verhalten ist ganz natürlich, wird aber durch Social-Media-Technologien verstärkt.

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Abbildung 2 – „You see what you want to see and you hear what you want to hear. You dig?“ (Man sieht, was man sehen will, und hört, was man hören will. Verstehst du?) Der Felsen­mann aus Harry Nilssons Konzeptalbum „The Point!“ Quelle: alterpast

Wahrscheinlich ist es schwerer, diese Tendenz im eigenen Berufs­leben zu erkennen, aber wenn wir Modelle bevor­zugen, die unseren eigenen Vor­stellungen ent­sprechen, laufen wir Gefahr, die eigene Welt­anschauung als die einzig richtige zu betrachten. In der Folge kann es dann passieren, dass wir Ent­scheidungen aus Vor­eingenommenheit treffen, anstatt zu be­rücksichtigen, was wirklich das Beste für uns wäre.

Risiko Selbstgefälligkeit

Am riskantesten ist es wahrscheinlich, wenn man den höchsten Reife­grad er­reicht hat. Dann reden wir uns schnell ein, dass wir uns in einer stabilen, kom­fortablen Position be­finden und nichts weiter tun müssen, da ab nun alles nur noch „inkrementelle Innovationen“ sind.

Dieses Gefühl der Sicherheit ist sehr trügerisch und kann für ein Unter­nehmen schnell gefährlich werden, denn es ist immer falsch. In einer intakten Wirtschafts­landschaft steht Ihr Unter­nehmen ständig unter Wettbewerbs­druck, entweder von direkten Mit­bewerbern oder durch die zahl­losen Wahl­möglichkeiten für Kunden, ein­schließlich der Option, den Konsum komplett einzustellen.

Die Geschichte steckt voller Beispiele von Unter­nehmen, die operativ aus­gereift waren und dennoch gleich­zeitig in die Bedeutungs­losigkeit schlitterten.

Zur verantwortungsvollen Nutzung

Wie also lassen sich Reifegradmodelle verantwortungsvoll nutzen?

Die Antwort ist simpel: genau so, wie Sie jede andere öffentliche Meinung für sich nutzen würden – indem Sie sie kritisch hinter­fragen. Indem Sie sich bewusst machen, dass Reife­grad­modelle keine wissen­schaftlichen Modelle darstellen, sondern Hypothesen darüber, wie etwas ab­laufen sollte – formuliert im Erzählstil. Indem Sie deren Behauptungen hinter­fragen und sie anderen Ideen gegen­über­stellen. Konkret sollten Sie Folgendes tun:

  • Verwenden Sie mehr als ein Modell, wenn Sie Reifegrad­modelle in Ihren Entscheidungs­prozess ein­binden möchten. Schauen Sie über den Teller­rand Ihrer bis­herigen Disziplin hinaus (z. B. Lokalisierung), um die Ideen hinter dem Konzept der „Reife“, die sich mit Ihrem Tätigkeits­bereich über­schneiden und ihn be­einflussen, besser zu verstehen. Je mehr Welt­anschauungen Sie ein­beziehen, desto besser ist der Gesamt­eindruck, den Sie erhalten.
  • Versuchen Sie, die Tendenzen und Meinungen des Ver­fassers des je­weiligen Modells zu verstehen. Wem und wozu dient das Modell? Inwiefern stimmen deren Interessen mit Ihren überein?
  • Verwenden Sie Reife­grad­modelle nie, um neue oder konkurrierende Ideen als „unreif“ einzustufen, nur weil sie nicht dem Modell entsprechen.
  • Verwenden Sie Reifegrad­modelle ebenfalls nie, um die Kunden­nachfrage zu beurteilen. Kunden gelten Ihrem Modell zufolge vielleicht als unreif, aber nach wie vor gilt: Der Kunde hat immer recht.
  • Nutzen Sie Reifegrad­modelle immer als An­stoß für Ver­besserungen, aber nie als Ausrede für Stillstand. Wenn Sie sich nie aus Ihrer Komfort­zone wagen, dann ist es mit hoher Wahr­scheinlichkeit auf lange Sicht schlecht für Sie.

Kurz gesagt: Gehen Sie lieber prag­matisch vor, als un­bedingt recht haben zu wollen, und seien Sie offen, aber kritisch. Wie CSA es in Version 3.0 des „Localization Maturity Model“ ausdrückt: „Egal, wie viel Ihr Team und der Rest Ihrer Organisation hin­sichtlich der Lokalisierungs­reife erreicht haben, werden Sie keines­falls selbst­gefällig. Konzentrieren Sie sich auf die ständige Ver­besserung, achten Sie auf neue Trends, Möglichkeiten und Anforderungen.“

So eingesetzt, können Reifegrad­modelle nützliche Werkzeuge sein oder gar als Katalysator für die strategische Planung, die Planung von Ver­besserungen, die Evaluation von Fähig­keiten und viele andere Aspekte dienen, die von einer klaren Ziel­setzung profitieren.

 

Wir bedanken uns bei Jim Compton für seine Gedanken zum Umgang mit Reifegrad­modellen, die in seiner lang­jährigen Berufs­tätigkeit gereift sind.