Die Top 10 der Mythen im Bereich Übersetzen

In unserer digitalisierten Welt ver­breiten sich In­formationen – wahre wie falsche – wie Lauf­feuer. Da kann es schwer­fallen, zu nach­weis­lichen Fakten vor­zudringen. Dasselbe beo­bachten wir auch in der Lokalisierungs- und Übersetzungs­branche, die von Außen­stehenden größten­teils miss­verstanden wird. Daher hielten wir es für an­gebracht, die zehn am weitesten ver­breiteten Mythen im Bereich Über­setzen zu wider­legen, die uns im privaten Umfeld immer wieder entgegen­gebracht werden.

Jeder, der mehr als eine Sprache spricht, kann über­setzen. Zum Über­setzen reicht es, Mutter­sprachler zu sein.

Das hängt vom erwarteten Qualitäts­niveau ab. Sicher, Sie müssen keinen Sprach­dienstleister be­auftragen, wenn Sie zum Privat­gebrauch schnell etwas über­setzt brauchen oder jemanden ein Dokument über­fliegen lassen müssen, um die darin ver­wendete Sprache zu be­stätigen. In den meisten inter­nationalen Unter­nehmen gibt es Mutter­sprachler, die un­kritische Auf­gaben über­nehmen können.

An Kunden gerichteter Content und Dokumente, die für wichtige unter­nehmerische Ent­scheidungen heran­gezogen werden, er­fordern jedoch pro­fessionelle Über­setzer, die beide Sprachen auf sehr hohem Niveau be­herrschen, möglichst in die Mutter­sprache über­setzen und vorzugs­weise im Land der Ziel­sprache leben. Sie sind aus­gebildete Linguisten oder Übersetzer und müssen strenge Prüfungen bestehen, um für pro­fessionelle Sprach­dienstleister arbeiten zu dürfen.

Übersetzen und Dolmetschen ist dasselbe.

Dolmetscher sind im Grunde redende Über­setzer und müssen in Sekunden­bruchteilen die richtige For­mulierung finden. Diese speziell ge­schulten Experten werden für be­stimmte Ver­anstaltungen oder Ver­pflichtungen gebucht, weshalb sie Zeit dafür verwenden, vor­bereitende Be­sprechungs­unterlagen durch­zugehen und ihre Terminologie­kenntnisse ge­zielt zu er­weitern, bevor sie sich der Live-Situation stellen.

Wie Sie wissen, arbeiten Übersetzer aus­schließlich mit ge­schriebener Sprache. Sicher müssen auch sie Fristen beachten und mit­hilfe ihrer Tools und Fertig­keiten für Ein­heitlichkeit und Ein­haltung der Terminologie sorgen, doch sie haben mehr Zeit, For­mulierungen zu finden und Themen zu recherchieren.

Sie sehen also, beide Berufs­felder er­fordern unter­schiedliche Qualifikationen und Fertig­keiten.

Übersetzung bedeutet doch bloß, im Wörterbuch nachzuschlagen.

Wer um Himmels Willen kam denn bloß auf diese Idee? Sogar die ersten Formen der maschinellen Übersetzung waren aus­geklügelter. Denken Sie nur an die Grund­bausteine einer Sprache: Wörter und Regeln.

Ginge es beim Übersetzen nur darum, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen, hätte die Lokalisierungs­branche gar keine Daseins­berechtigung. Übersetzen heißt eben nicht nur, die Wörter und Syntax einer Sprache zu übertragen, sondern auch zu­sätzliche Aspekte wie mit­schwingende Emotionen und Absichten ein­zubeziehen. Wenn Sie das noch nicht ganz überzeugt hat, sehen Sie sich am besten den be­kannten Film „Lost in Translation“ an.

Übersetzen ist ein aus­sterbender Beruf. Bald wird sowieso alles maschinell übersetzt!

Nicht so schnell … Obwohl der Autor dieses Texts von künst­licher Intelligenz über­zeugt ist und davon ausgeht, dass Auf­gaben wie das Über­setzen eines Tages komplett von Maschinen aus­geführt werden, ist es noch zu früh für Prog­nosen, wann genau das sein wird.

Content umfasst je nach seinem Zweck unter­schiedliche Bedeutungs­ebenen und spricht ver­schiedene Emotionen an. Texte wie Be­dienungs­anleitungen oder Hilfe­artikel sollten im Inhalt recht technisch und emotionslos sein, weshalb es kaum linguistische Kreativität er­fordert, sie zu ver­fassen. (Eine aus­gereifte, gut trainierte Engine für die maschinelle Über­setzung kann das.) Eine Marketing­broschüre oder die Web­seite einer Produkt­kampagne er­fordert mehr Kreativität. Gelungene Über­setzungen wecken Emotionen und den Wunsch, das Pro­dukt zu kaufen. (Darum werden sich möglicher­weise auch in aller Zukunft Menschen kümmern.)

Es ist noch viel zu tun, bis Engines für die maschinelle Über­setzung Emotionen ver­stehen können, ganz zu schweigen davon, sie von einer Sprache und Kultur in eine andere zu übertragen. Erst, wenn der Zustand der Singularität erreicht ist, wird der Beruf des Über­setzers über­flüssig – doch zu diesem Zeit­punkt wird die Zukunft der Über­setzer womöglich nicht unsere größte Sorge sein.

Für jeden Satz gibt es genau eine korrekte Über­setzung. Zwei er­fahrene Über­setzer werden daher identische Übersetzungen liefern.

Wäre das nicht schön? Ein einfaches Beispiel räumt mit dieser Idee auf: „Ich sah einen Mann auf einem Hügel mit einem Teleskop.“ Dieser einfache Satz kann im Deutschen fünf Be­deutungen haben – und damit fünf Mal anders übersetzt werden.**

Wenn frühere Über­setzungen aus einem Translation Memory an­gezeigt werden, muss auch der Kontext dieser Segmente ge­prüft werden. Stellen Sie sich vor, Sie müssten den oben stehenden Satz korrekt über­setzen, ohne die Hinter­grund­geschichte zu kennen.

Abgesehen davon hat jeder Über­setzer seine Präferenzen und wird den Satz daher etwas anders wiedergeben, beispiels­weise unter Zu­hilfenahme ver­schiedener grammatischer Strukturen und Synonyme. Hier können linguistische Assets helfen – genauer gesagt Style­guides und Glossare, die sicher­stellen, dass Linguisten die Vor­gaben von Kunden ein­halten. Es gibt noch eine andere Mög­lichkeit, abweichende Über­setzungen der­selben Bedeutung zu ver­meiden und die Wieder­verwendung früherer Über­setzungen zu unterstützen: Die Ausgangs­sprache sollte einfach gehalten und der Content sollte standardisiert und modular sein.

** Neugierig geworden? Das sind die fünf Bedeutungen?

  • Ein Mann befand sich auf einem Hügel. Ich sah ihn durch mein Teleskop.
  • Ein Mann befand sich auf einem Hügel. Ich sah ihn und er hatte ein Teleskop.
  • Ein Mann befand sich auf einem Hügel. Auf dem Hügel ist auch ein Teleskop.
  • Ich befand mich auf einem Hügel und sah einen Mann mithilfe eines Teleskops.
  • Ich befand mich auf einem Hügel und sah einen Mann, der ein Teleskop hatte.

Wenn ich eine hoch­wertige Über­setzung wünsche, muss ich einfach nur einen er­fahrenen Übersetzer damit be­auftragen, „höchste Qualität“ zu liefern.

Die Aussage „Ich erwarte höchste Qualität“ ergibt nur dann Sinn, wenn es einen Referenz­rahmen dafür gibt. Bei Über­setzungen gibt es keine „höchste“ Qualität. Linguistische Qualität als eigen­ständiges Konzept zu definieren und zu messen, ist schwer bis unmöglich. Faktoren wie Ziel­gruppe, Thema, Content-Typ und -Zweck spielen immer eine Rolle.

Natürlich ist linguistische Qualität beim Über­setzen eines Hilfe­artikels un­verzichtbar, doch technische Hand­bücher oder Rechts­dokumente erfordern Fachwissen, während Marketing-Content bei einem kreativen Texter am besten aufgehoben ist.

Jeder Übersetzer kann linguistische Qualitäts­sicherung umsetzen. Jeder Mutter­sprachler ist dazu geeignet, Übersetzungs-Reviews vorzunehmen.

Zugegeben, oft überprüfen Übersetzer ihre Arbeit gegen­seitig. Doch be­stimmte Reviews er­fordern spezifisches Fach­wissen, Hinter­grund­informationen oder einfach einen mit dem Produkt vertrauten Experten. Aus diesem Grund umfassen einige Übersetzungs­arbeiten den Zusatz­schritt der Kunden-Review – durch jemanden, der das Produkt oder den Service ganz genau kennt und die Richtig­keit des Ziel­textes bestätigen kann. Marketing-Content beispiels­weise profitiert von einem Kunden-Reviewer, der nicht nur mit Stil und Ausdrucks­weise des Brandings vertraut ist, sondern auch mit dem Produkt, Service oder Zielmarkt.

Maschinelle Übersetzung wird die Wieder­verwendung per Translation Memory ersetzen.

Ja, das wird sie. Die Grenzen zwischen der her­kömmlichen Wieder­verwendung von Über­setzungen in Translation Memorys (TMs) und maschineller Übersetzung (MT) verschwinden nach und nach. Zahlreiche Translation-Management-Systeme sind bereits offen für eine Kom­bination aus TM-Wieder­verwendung und MT. Letztendlich wird die Quelle eines vor­übersetzten Segments un­wichtig sein, weil MT-Engines und TMs im Trainings­schritt kombiniert werden: Die Qualitäts­stufen der Wieder­verwendung werden durch­lässig, das heißt, MT-Engines und TMs werden zu einer einzigen Quelle verschmelzen.

Weiterhin von Bedeutung wird jedoch der Gegen­stand der Ausgangs­inhalte sein, denn er bestimmt die Auswahl des richtigen Geltungs­bereichs für den Prozess der Vorübersetzung.

Jeder Übersetzer kann MT-Post-Editing durchführen (auch ohne vorherige Schulung).

Aus rein linguistischer Perspektive be­trachtet stimmt das. Übersetzer, die unsere An­forderungen an die linguistische Übersetzungs­qualität erfüllen, werden in der Lage sein, als Post-Editoren zu arbeiten. Doch auch ein anderer Aspekt dieses Services spielt eine Rolle: Das Pro­duktivitäts-Qualitäts-Paradigma. Ein guter Post-Editor muss den Zeit­aufwand für Review und Aktualisierung des maschinell übersetzten Textes gegen das er­forderliche Qualitäts­niveau ab­wägen können. Zudem muss er schnell entscheiden, ob die Über­setzung modifizierbar ist oder lieber von Grund auf neu er­stellt werden sollte. Letzteres kann nämlich mitunter effizienter sein.

Flexibilität im Denken ist der ent­scheidende Soft Skill eines guten Post-Editors, denn damit kann er seinen Arbeits­stil auf das Projekt­ziel abstimmen. Idealer­weise ist ein Post-Editor auch mit den Fehlern vertraut, die eine bestimmte MT-Engine hervor­bringen kann. Das hilft ihm, diese zu finden und zu beheben.

Softwarelokalisierung ist nichts weiter als das Übersetzen von Strings.

Wenn Sie die Funktionalität, die Bedien­oberfläche oder das Benutzungs­erlebnis (UX) des Produkts nicht interessieren, ist das korrekt.

Die Übersetzung von Anwendungen und Betriebs­systemen ist schwierig und komplex. Selbst mit modernen Tools für die Software­entwicklung besteht immer noch ein er­hebliches Risiko von defekten An­wendungen, weil die Strings falsch über­setzt wurden. Noch komplizierter wird es durch die Unter­schiede bei den Betriebs­systemen und Anzeige­einstellungen von Smartphones, Tablets und anderen Elektro­geräten. Nie war es wichtiger, in Projekten der Software­lokalisierung aus­reichend Zeit für das funktionale und linguistische Testen sowie Lokalisierungs- und UX-Tests einzuplanen und so sicher­zustellen, dass Ihre Produkte einsatzbereit und fehlerfrei sind.

 

Vielen Dank an Solutions Architect Jan Grodecki für diesen Beitrag. Kennen Sie noch andere Irrtümer, die über das Übersetzen kursieren? Teilen Sie sie hier mit uns!